Dares von Phrygien

„Der Phryger Dares soll vor Homer gelebt haben“, sagt Ernst Karl Friedrich Wunderlich (1839) in seiner Übersetzung der Werke von Claudius Aelianus.
Dictys Cretensis und Dares Phrygius aus dem Jahr 1531.
Eine Ausgabe von Dares aus Amsterdam, 1631.
Die Bearbeitung des Werkes von Dictys Cretensis durch Jakob Perizonius aus dem Jahr 1702.

Wie Diktys von Kreta ist auch Dares von Phrygien angeblich ein Augenzeuge des Trojanischen Kriegs. Der lateinische Roman Acta diurna belli Troiani unterscheidet sich wiederum in einigen Punkten von Homer, jedoch auch von Diktys: Während dieser die griechische Sichtweise darstellt, vertritt Dares eher die trojanische Seite. Bis ins Jahr 1700 herrschte in Europa helle Begeisterung für diese Darstellung – dann wurde sie zur Fälschung erklärt.

KENNTNISSTAND

In der Ilias (5.9, 5.27) tritt ein Dares von Phrygien auf, der Priester von Hephaistos war. Unter dem Pseudonym Dares Phrygius erschien im 5. Jh. ein lateinischer Roman mit dem Titel Acta diurna belli Troiani, der den Trojanischen Krieg angeblich als Augenzeugenbericht schildert. Historiker gehen heute davon aus, dass die lateinische Version auf einer griechischen Originalfassung basiert, da bereits der römische Sophist Claudius Aelianus (Varia Historia 11.2) im 2. Jh. und der griechische Schriftsteller Ptolemaios Chennos im 1. Jh. ein griechisches Dares-Buch bezeugen.

Isidor, Bischof von Sevilla und Geschichtsschreiber (ca. 560-636), kompilierte das im Westen des Mittelmeerraums um 600 noch vorhandene Wissen der Antike in seinem grundlegenden Werk, den Etymologiae, und nennt darin Dares in einem Atemzug mit Moses und Herodot:

Geschichte hat aber bei uns zuerst Moses geschrieben, [und zwar] vom Anbeginn der Welt an. Bei den Heiden hat zuerst Dares Phrygius die Geschichte von den Griechen und Trojanern herausgegeben, welche auf Palmblättern von ihm aufnotiert worden sein soll. Nach Dares wird in Griechenland aber Herodot für den ersten im Bezug auf die Geschichte gehalten.

Isidor, Etymologiae 1.42 (Möller)

Der Inhalt der Acta unterscheidet sich von dem der Ilias in einigen wichtigen Punkten und kann als Gegenentwurf zur Ephemeris belli Troiani des Dictys Cretensis betrachtet werden, der denselben Stoff aus griechischer Sicht behandelte. Dares vertritt als Phryger die asiatische Sichtweise und äußert sich daher tendenziell eher positiv über die trojanische Seite. Manche Elemente des homerischen Epos, darunter der Zorn des Achilles, das eigentliche Thema der Ilias, werden bei Dares erst verständlich.

Achill verliebt sich in Polyxena, die Tochter des trojanischen Königs Priamos, und bittet, sie heiraten zu dürfen. Priamos verlangt jedoch vorab einen förmlichen Friedensschluss, zu dem es offensichtlich nicht kommt. Die Handlung wird wie bei Diktys rationalisiert und entheroisiert, Götter treten nicht mehr auf. Laut Dares unterlag Troja letztlich, weil die Stadt von Antenor und Aeneas verraten wurde. Die beiden öffneten den griechischen Streitkräften nachts das Skäische Tor.

ANREGUNGEN

Die luwischen Kleinstaaten schlossen sich zusammen und bauten eine Flotte

Über tausend Jahre herrschte in Europa eine geradezu epidemische Begeisterung für die asienfreundliche Darstellung des Dares. Und dann plötzlich, nur kurze Zeit nach der Belagerung Wiens durch die Osmanen, war es damit ein für alle Mal vorbei. Im Jahr 1702 deklarierte der niederländische klassische Gelehrte Jacob Perizonius die Werke von Dares und Diktys „unumstößlich“ als Fälschungen. Diese Überzeugung ist seither und bis heute fest in den Lehrbüchern verankert. Perizonius war in jeder Hinsicht ein Philhellene. Er tauschte seinen niederländischen Namen Voerbroek gegen einen griechischen aus und erwähnte Türken nur im direkten Zusammenhang mit Europa. Im Übrigen war er jedoch in vielerlei Hinsicht durchaus offen und glaubte vor allem auch an die Historizität des Trojanischen Kriegs. Er berücksichtigte wenn immer möglich mehr als nur eine Quelle und versuchte einen Kompromiss zwischen Ablehnung und Leichtgläubigkeit zu finden. So gesehen wäre Perizionius vielleicht der Erste gewesen, der seine eigenen Schlüsse als provisorisch eingestuft hätte. Wie wäre es nun, wenn die Advokaten der Altphilologie die Lehrmeinungen ihrer Disziplin von Zeit zu Zeit hinterfragen würden, insbesondere wenn neue Beweise aufgetreten sind? Die Naturwissenschaften haben letztlich seit 1702 einige Umbrüche erlebt – und von diesen durchaus profitiert.

Möglicherweise eine der aufschlussreichsten Stellen in Dares’ Werk ist die eher beiläufige Bemerkung im 6. Kapitel:

Für Griechenland gäbe es viele Helfer, Europa verfüge über viele kriegslüsterne Menschen, Asien hätte immer sein Leben im Müßiggang hingebracht und besäße deswegen keine Flotte.

(Hradský)

Wir wissen inzwischen, dass die Hinweise auf eine minoische Meerherrschaft (Thalassokratie) bei Thukydides (1.4; 1.8), Herodot (3.122) und Diodor (5.84.1) eine historische Berechtigung besaßen. Ist Dares’ Aussage, dass die asiatische Seite – also die luwische, wohl mit Ausnahme von Troja – keine Schiffe besaß, historisch zutreffend, könnte dies eine ganze Reihe von offenen Fragen klären, für die der Ausgrabungsbefund allein bisher keine Antworten geliefert hat. Dares sagt (7): „Deswegen beschlossen alle, eine Flotte auszurüsten und nach Griechenland aufzubrechen.“

Die luwischen Kleinstaaten mögen mit Landwirtschaft, Bodenschätzen und Handel entlang der Inlandrouten ausreichenden geschäftlichen Erfolg erzielt haben. Die Kontrolle über die Seewege besaßen allerdings zunächst die Minoer und nach 1450 v. Chr. die Mykener, zum Teil offenbar unter Einsatz kanaanitischer Schiffe, wie das Wrack von Uluburun belegt. Wenn die Luwier mit den Seevölkern identisch sind und sich um 1200 v. Chr. gemeinsam entschlossen, in kurzer Zeit eine substanzielle Flotte aufzubauen, könnte dies einige Besonderheiten der Seevölker-Inschriften in Medinet Habu erklären: allen voran den Überraschungseffekt, den diese Überfälle offensichtlich hatten, und die Tatsache, dass die Invasorenvölker zum größten Teil als frühere Fußsoldaten namentlich bekannt waren.

Auch der bemerkenswert ausgereifte Schiffstyp der Seevölker würde erklärbar. Wir dürfen davon ausgehen, dass das Königreich Troja seinen Reichtum zum Teil auf die Kontrolle des Handels durch die Dardanellen stützte. Eine solche Kontrolle ließ sich nur militärisch durchsetzen. Folglich müssen die Trojaner über schnelle, wendige Schiffe und hervorragende nautische Kenntnisse verfügt haben, damit sie die Meerenge falls nötig auch gegen den Strom navigieren konnten. Wenn sich die luwischen Kleinstaaten zu einem Militärbündnis zusammenschlossen und eine Flotte bauten, wäre es naheliegend, dass dies unter trojanischer Regie und auf der Basis eines trojanischen Schiffstyps erfolgte. In der Darstellung der Seevölker-Invasionen tragen denn auch viele Invasoren eine Federkrone und den Namen Tkr (für Teuker) – beides sind Elemente, die eng mit Troja verknüpft sind. Demnach fiele dem flächenmäßig kleinen und eher abgelegenen Königreich Troja eine Schlüsselrolle bei der Katastrophe am Ende der Bronzezeit zu. Und dies wiederum könnte auch erklären, warum sich die vereinten Kontingente der griechischen und luwischen Heere ausgerechnet vor Troja zur alles entscheidenden Schlacht versammelten.

Dares zählt auch in den letzten Sätzen seines Werks konkrete Fakten auf:

Gekämpft wurde vor Troia 10 Jahre, 6 Monate und 12 Tage. Es fielen von den Argivern, wie es die Tagebücher verzeichnen, die Dares geführt, 886’000 Menschen und von den Troern bis zum Verrat der Stadt 676’000 Menschen.

Dares, 44 (Hradský)

Auch wenn die Angaben zu den Kriegsopfern erfunden sein mögen, bleibt ihre Größenordnung bemerkenswert.

LITERATUR

Beschoner, Andreas (1992): Untersuchungen zu Dares Phrygius. Classica Monacensia – Münchner Studien zur Klassischen Philologie 4, Gunter Narr, Tübingen, 1-294.
Clarke, Frederic (2011): “Authenticity, Antiquity, and Authority: Dares Phrygius in Early Modern Europe.” Journal of the History of Ideas 72 (2), 183-207.
Greif, Wilhelm (1886): “Die mittelalterlichen Bearbeitungen der Trojanersage.” Abhandlungen aus dem Gebiete der Romanischen Philologie 61, N.G. Elwert‘sche Verlagsbuchhandlung, Marburg, 1-292.
Hradský, Wolfgang (2005): Der Krieg gegen Troia – wie er wirklich war. Die beiden “Augenzeugen”-Berichte des Dares aus Phrygien und des Diktys von Kreta. docupoint, Magdeburg, 1-213.
Jäckel, Rudolf (1875): Dares Phrygius und Benoit de Sainte-More – ein Beitrag zur Daresfrage. Barth, Breslau, 1-65.
Merkle, Stefan (1989): “Die Ephemeris belli Troiani des Diktys von Kreta.” Studien zur klassischen Philologie 44, 1-323.
Möller, Lenelotte (2008): Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla. Marix, Wiesbaden, 1-736.
Wager, Charles Henry Adams (1899): The Seege of Troy. Macmillan, New York, 1-250.