Das minoische Kreta

Selbst der zweite Stock mancher Gebäude in Akrotiri ist noch erhalten; was beweist, dass es keinen Caldera-Einsturz in minoischer Zeit gegeben haben kann.
Die Häuserfronten in Akrotiri sind zum Teil über mehrere Etagen unversehrt.
Ausgegrabenes Haus in Akrotiri auf Santorin.
Diese zerbrochene Treppe in Akrotiri ist der deutlichste Hinweis auf Bodenbewegungen, aber bei weitem nicht ausreichend, um einen Calderaeinsturz zu belegen.
Eine nachempfundene Straßenszene in Akrotiri.
Die hervorragend erhaltenen Gebäude am Dreiecksplatz in Akrotiri bezeugen, dass es keinen Calderaeinsturz nach dem minoischen Ausbruch gab.
Künstlerische Rekonstruktion des Obergeschosses des Westhauses in Akrotiri.
Wegen des gekippten Steinblocks in den Fundamenten von Amnisos auf Kreta führte der griechische Archäologe Spyridon Marinatos den Untergang der minoischen Kultur auf einen Tsunami zurück.
In der minoischen Fundstätte Apodoulou auf Kreta sprechen bis heute erhaltene über 2 m hohe Trockensteinmauern gegen eine Erdbebenkatastrophe am Ende der Altpalastzeit.
Rekonstruktion der sogenannten Karawanserei in Knossos.
Arthur Evans deutete die geneigten Fundamentsteine in Knossos als Hinweise auf Erdbeben.
Floraler Stil der spätminoischen Keramik.
Die Männer des minoischen Volkes sind auf den Fresken athletisch und durchtrainiert dargestellt. (© Rosemary Robertson)
Ein Lavastrom auf der Insel Nea Kameni beim Santorin-Ausbruch im Jahr 1866.
Die Bimssteinschichten des minoischen Ausbruchs von Thera liegen wie ein Tuch über älteren Gesteinen und sind tektonisch nicht gestört. Nach ihrer Ablagerung kann sich kein Calderaeinsturz ereignet haben.
Während eines Vulkanausbruchs können sich Magmakammern in der oberen Kruste entleeren. Der gesamte Vulkankegel stürzt in sich zusammen. Was an der Oberfläche sichtbar bleibt, ist eine Caldera.

Die minoische Palastkultur auf Kreta entstand bereits etwa um 2000 v. Chr. Die Minoer pflegten bald enge Kontakte zu anderen Regionen des östlichen Mittelmeers bis hin zu Ägypten. Ausgrabungen zeigen jedoch, dass die Kultur keineswegs homogen war, denn die Artefakte unterscheiden sich von Region zu Region. Daher wäre es denkbar, dass die Siedlungen auf Kreta zum Teil auch als Handelsstützpunkte verschiedener umliegender Länder dienten. Der Untergang der minoischen Kultur ist vermutlich auf eine Eroberung durch die Mykener um 1430 v. Chr. zurückzuführen.

KENNTNISSTAND

Die minoische Kultur auf Kreta gilt als die früheste Hochkultur Europas. Ungefähr um 2000 v. Chr. entstanden Paläste in Knossos, Malia, Phaistos und Petras, die als Verwaltungszentren und als Umschlagplatz für Waren dienten. Sie waren Sitz einer religiösen und politischen Elite und hatten auch kultische Funktionen. Im dicht besiedelten Land entstanden erstmals Städte, die z.B. auch über beachtliche Trinkwasser- und Abwassersysteme verfügten. Eine vielschichtige Gesellschaft erlaubte ausgeprägte Spezialisierungen, so gab es z.B. Fischer, Ruderer, Kapitäne, Soldaten, Schreiber, Töpfer, Maler, Bauarbeiter, Architekten und Musiker.

Den Aufstieg der Paläste begleiteten die Einführung der Schrift und die Intensivierung der Handelskontakte mit anderen Regionen im östlichen Mittelmeer. Archäologische Funde belegen, dass die minoische Kultur auf das gesamte östliche Mittelmeer ausstrahlte. Unter kretischem Einfluss standen unter anderem die Inseln Santorin, Kythira, Rhodos und Melos sowie das kleinasiatische Milet, evtl. auch Zypern. Enge Beziehungen bestanden außerdem zu Ägypten: Bis um etwa 1400 v. Chr. finden sich in ägyptischen Gräbern immer wieder Darstellungen kretischer Gesandtschaften. Inschriften in Mesopotamien bezeugen Kontakte auch in diese Region.

Die sogenannte Altpalastzeit fand im 17. Jh. v. Chr. ein abruptes Ende. Die meisten Forscher vermuten ein Erdbeben als Ursache der Zerstörungen. Die Paläste wurden jedoch rasch wieder aufgebaut, lediglich Monastiraki blieb komplett verlassen.

Um 1430 v. Chr. sind überall auf Kreta erneut Spuren von Bränden und Zerstörungen nachweisbar. Die Mehrheit der Forscher nimmt heute an, dass diese auf eine Eroberung durch die Mykener zurückzuführen sind. Die weitverbreitete Theorie, dass die Küstenstädte einem Vulkanausbruch auf der Insel Thera (Santorin) und evtl. einem anschließenden Tsunami zum Opfer fielen, gilt als widerlegt. Weitere Hypothesen – schwere Erdbeben, der Wegfall von Absatzmärkten oder innere Unruhen – können nicht ausreichend belegt werden. Als gesichert gilt nur, dass mykenische Herrscher den Palast von Knossos eroberten und bis mindestens 1375 v. Chr. weiterführten. Schließlich blieb die Insel auch von den Umwälzungen um 1200 v. Chr. nicht verschont, obschon sich das Minoisch-Mykenische noch bis ca. 1050 v. Chr. hielt.

ANREGUNGEN

Überfälle statt Naturkatastrophen

Die Palastkultur einschließlich Architektur, Hieroglyphenschrift und Administrationssystem mit Siegeln erscheint auf Kreta so plötzlich, dass ein Transfer aus Syrien/Palästina und/oder Kleinasien wahrscheinlich ist. Die mittelbronzezeitliche Kultur auf Kreta war offenbar nicht homogen. Die materielle Kultur, die Ausgrabungen zutage förderten, unterscheidet sich häufig von Fundstätte zu Fundstätte bzw. Region zu Region. Es könnte sich daher bei den Siedlungen auf der Insel um Anlaufstellen und Stützpunkte verschiedener Kulturen der umliegenden Festländer gehandelt haben (darunter auch solche der Luwier). Auch Homer sagt, auf Kreta lebten „Völker von mancherlei Stamm und mancherlei Sprachen“, darunter auch „edle Pelasger“ (Odyssee 19.172-179) – ein Stamm, dessen Kerngebiet nach Meinung mancher Gelehrter südlich von Troja lag.

Erdbeben zur Erklärung des Zerstörungshorizontes um 1700 v. Chr. sind aus verschiedenen Gründen nicht plausibel. Auf Kreta gibt es keine tektonischen Störungen, die ausreichend lang wären, um ein starkes Erdbeben mit überregionalen Zerstörungen zu erzeugen. Außerdem weisen die alten Paläste keineswegs die für Erdbebenschäden typischen Einstürze durch Verflüssigung des Bodens auf. In Apodoulou sind sogar über zwei Meter hohe Trockensteinmauern tadellos intakt geblieben. In Monastiraki wurden alle wertvollen tragbaren Gegenstände wie Schmuck, Bronzeobjekte und Siegel entfernt, und manche Bewohner opferten noch unmittelbar vor der Katastrophe den Göttern. Die Spuren von Bränden deuten eher auf Überfälle von äußeren oder inneren Feinden hin.

Auch die Auswirkungen des Ausbruchs von Thera, der vermutlich im Frühjahr 1628 v. Chr. begann, werden noch immer überschätzt. Dass der Vulkanausbruch und der Untergang der minoischen Kultur zeitlich nicht zusammenpassen, ist mittlerweile erwiesen. Noch nicht ganz durchgesetzt hat sich die Erkenntnis, dass die Caldera des Vulkans von Thera gar nicht in minoischer Zeit entstanden sein kann, sondern größtenteils vermutlich hunderttausend Jahre älter ist. Im Innern der Caldera finden sich ältere Ablagerungen, die minoischen Bimssteinschichten sind nirgendwo tektonisch gestört, und die Siedlung in Akrotiri wäre bei einem massiven tektonischen Einsturz dem Erdboden gleichgemacht worden. Ohne Caldera-Einsturz gibt es auch keinen Tsunami.

LITERATUR

Ambraseys, Nicholas N. (1973): “Earth science in archaeology and history.” Antiquity 47, 227-229.
Finkelberg, Margalit (2005): Greeks and Pre-Greeks: Aegean Prehistory and Greek Heroic Tradition. Cambridge University Press, Cambridge, 1-203.
Lohmann, Hans (1998): “Die Santorin-Katastrophe – ein archäologischer Mythos?” In: Naturkatastrophen in der antiken Welt. Eckart Olshausen & Holger Sonnabend (eds.), Stuttgarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums, vol. 10, Franz Steiner, Stuttgart, 337-363.
McCoy, Floyd W. & Grant Heiken (2000): Volcanic Hazards and Disasters in Human Antiquity. Geological Society of America Special Papers 345, Geological Society of America, Boulder, Colorado, 1-345.
Niemeier, Wolf-Dietrich (2009): “Milet und Karien vom Neolithikum bis zu den ‘Dunklen Jahrhunderten’ – Mythos und Archäologie.” In: Die Karer und die Anderen. Frank Rumscheid (ed.), Rudolf Habelt, Bonn, 7-25.
Zangger, Eberhard (1998): “Naturkatastrophen in der ägäischen Bronzezeit. Forschungsgeschichte, Signifikanz und Beurteilungskriterien.” In: Naturkatastrophen in der antiken Welt. Eckart Olshausen & Holger Sonnabend (eds.), Stuttgarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums 10, Franz Steiner Verlag, Stuttgart, 211-241.