Der Diskos von Phaistos

Mit Tinte geschriebene Linear-A-Zeichen um die Innenfläche einer Tasse, die 1909 von Arthur Evans gefunden wurde.
Die Bleischeibe von Magliano stammt aus der Nähe von Grosseto in der Toskana (Italien). Sie trägt eine etruskische Schrift aus dem 5. oder 4. Jh. v. Chr.
Ein Tonscheibenfragment mit Zeichen, die denen des Diskos von Phaistos ähneln, wurde 1992 in der Stadt Wladikawkas in Nordossetien-Alania gefunden und verschwand 2001 wieder.
Dieser spätbronzezeitliche goldene Ring mit Linear-A-Schrift wurde im Königsgrab IX bei Mavro Spelio in der Nähe von Knossos im Jahr 1926 gefunden.
Luwische Hieroglpyhen (links) und äquivalente Piktogramme auf dem Diskos von Phaistos (rechts).
Der Diskos von Phaistos (hier Seite A) ist eine Scheibe aus gebranntem Ton mit rund 15 cm Durchmesser.
Seite B des Diskos von Phaistos.
Das Bronzesiegel aus Troja VIIb aus dem 12. Jh. v. Chr. ist bis heute der einzige Schriftfund aus dem bronzezeitlichen Troja.

Der berühmte Diskos von Phaistos ist eines der größten Rätsel der Archäologie. Weder seine Herkunft noch die Bedeutung der Inschrift konnte geklärt werden. Unzählige Spekulationen und Entzifferungsversuche, gerade von Laien, haben dazu geführt, dass sich Wissenschaftler heute ungern – wenn überhaupt – mit dem Diskos befassen. Die Hoffnung bleibt, dass zukünftige Ausgrabungen eines Tages weitere Dokumente im gleichen Stil zutage fördern.

KENNTNISSTAND

Der Diskos von Phaistos ist eine Scheibe aus gebranntem Ton mit rund 15 cm Durchmesser, die am 3. Juli 1908 bei Ausgrabungen im minoischen Palast von Phaistos nahe der Südküste von Kreta gefunden wurde. Leiter der von italienischen Archäologen durchgeführten Ausgrabung war Luigi Pernier, der jedoch bei der Entdeckung der Tonscheibe nicht zugegen war. Der Diskos ist eines der berühmtesten Fundstücke aus der Bronzezeit und gleichzeitig eines der großen Rätsel der Mittelmeerarchäologie. Er ist mit über 240 spiralförmig angeordneten Menschen-, Tier- und Pflanzenmotiven versehen, die mit einzelnen Stempeln aufgedruckt wurden. Seine ausgereifte Fertigungstechnik mit beweglichen Lettern steht im Gegensatz zur Einzigartigkeit des Fundes. Die wiederverwendbaren Stempel ergeben nur Sinn, wenn sie mehrfach oder sogar häufig eingesetzt wurden. Praktisch alles, was den Diskos betrifft, ist umstritten, bis hin zur Leserichtung und zur Sprache der Schriftzeichen.

ANREGUNGEN

Ein luwischer Brief an Nestor

Seriöse Wissenschaftler meiden in aller Regel brisante Themen, an denen sich zu viele Laien versucht haben. Kaum ein Thema ist dabei so verrucht wie der Diskos von Phaistos, weil es schon zahllose Entzifferungsversuche gab.

Die niederländischen Sprachforscher Jan Best und Fred Woudhuizen haben in den letzten Jahrzehnten vieles für sich herausgefunden, was die Rekonstruktionsmodelle von Luwian Studies bestätigt. Dazu zählt auch eine höchst bemerkenswerte Entzifferung des Diskos von Phaistos, die sie zusammen mit drei anderen Mitgliedern der ehemaligen Alverna-Forschungsgruppe erarbeitet haben. Die epigrafische Untersuchung des Teams zeigt, dass die Schreibrichtung von außen nach innen verläuft und dass zuerst Seite A beschrieben wurde. Auf der Basis des Fundzusammenhangs wird ein Datum um 1350 v. Chr. für die Fertigung der Scheibe ermittelt.

Die amerikanische Sprachforscherin Alice Kober hatte bereits bei ihren umfangreichen Forschungen zu Linear B festgestellt, dass verschiedene Zeichen immer wieder in der gleichen Reihenfolge auftauchen und die Folge dann mit abwechselnden anderen Zeichen abgeschlossen wird. Kober ging davon aus, dass die gleichen Abfolgen dem Stamm eines Verbs oder Substantivs entsprechen und die abschließenden Zeichen Fallendungen oder Beugungen sind. Diese Erkenntnis führte schließlich zur Entzifferung von Linear B durch den britischen Architekten Michael Ventris kurz nach Kobers frühem Hinscheiden.

Der Diskos von Phaistos enthält ebenfalls solche fixen Abfolgen mit unterschiedlichen Endungen, und dasselbe trifft auf luwische Hieroglyphen zu. Von den 47 auf dem Diskos verwendeten Zeichen können insgesamt 29 mit luwischen Hieroglyphen korreliert werden. Die Übereinstimmungen gehen so weit, dass ganze Wörter auf dem Diskos sofort auf Luwisch lesbar werden, darunter a-su-wi-ya (B11) für „Aššuwa“. Best und Woudhuizen kamen daher zum Schluss, dass die Schrift des Diskos gar nicht so einzigartig ist, sondern nur eine lokale Variante der luwischen Hieroglyphenschrift darstellt. Unter diesen Umständen ist der Text komplett lesbar.

Gemäß dieser Interpretation werden auf dem Diskos eine Reihe von Orten erwähnt, die noch heute die gleichen Namen tragen: Mesara, Phaistos, Lasithi und Knossos. Auch andere aus der Spätbronzezeit vertraute geografische Namen treten auf, darunter Achaia, Arzawa und Aššuwa. Manche Wörter finden sich auch in akkadischen, Linear-B- oder ägyptischen Hieroglyphentexten. Zwei Personennamen erscheinen sogar über 500 Jahre später bei Homer in einem vergleichbaren Kontext: Nestor von Pylos und Idomeneus von Kreta.

Ausgrabungen in Apaša könnten möglicherweise weitere Dokumente im Stil des Diskos von Phaistos ans Tageslicht bringen.

Die politische Situation auf Kreta und für wen der Diskos bestimmt war (nach Kees Enzler 2004, Appendix I, I.5 The text and the political situation in Crete):

Nicht nur die Schrift, sondern auch die Sprache hat große Ähnlichkeit mit Luwisch. Wenn diese Leseweise stimmt, soll der Text auf dem Diskos einen Streit über Eigentumsrechte am Ort Rhytion in der Nähe von Pyrgos im Südwesten der Ebene von Mesara befrieden: Der griechische König Nestor besitzt ein Fürstentum auf Kreta, das Knossos und Teile der Ebene von Lasithi und der Mesara umfasst. Im Auftrag Nestors herrscht Idomeneus von seinem Sitz in Knossos als Vizekönig über Lasithi und als Gouverneur über die Mesara. Zu seinem Einflussbereich gehören die lokalen Kleinkönige Kuneus für Phaistos und Uwas für das Hinterland von Phaistos. Uwas liegt im Streit mit einem anderen Vasallenkönig über die Kontrolle von Rhytion und möchte, dass Nestor die Sache regelt. Dieser wendet sich offenbar an den Großkönig von Arzawa, dem wohl wichtigsten luwischen Staat. Der König von Arzawa fordert Kuneus auf, Uwas über die Herrschaftsrechte zu informieren.

Der Diskos von Phaistos ist demnach eine Kopie zum Verbleib bei Kuneus in Phaistos. Uwas dürfte ebenfalls ein Exemplar erhalten haben. Die Erstellung mehrerer Exemplare würde auch die Verwendung von Stempeln erklären. In diesem Fall entstand der Diskos vermutlich am Hofe des Königs von Arzawa, also in Apaša nahe Ephesos, und wurde dort von vornherein im lokalen Dialekt, der im luwischen Teil Kretas gesprochen wurde, verfasst. Demzufolge hätten die Luwier vor der Machtübernahme durch die Mykener auf Kreta viel zu sagen gehabt. Nach dieser Hypothese gehörten sogar Teile Kretas dem Aššuwa-Bündnis an, einer Vereinigung luwischer Kleinstaaten.

LITERATUR

Achterberg, Winfried et al. (2004): The Phaistos disc: A Luwian letter to Nestor. Dutch Archaeological and Historical Society, Amsterdam, 1-135.
Best, Jan G. P. & Fred Woudhuizen (1988): Ancient scripts from Crete and Cyprus. Publications of the Henri Frankfort Foundation, Brill, Leiden, New York, 1-131.
Enzler, Kees (2004): “Appendix I, I.5 The text and the political situation in Crete”. In: The Phaistos disc: A Luwian letter to Nestor. Winfried Achterberg et al. (Hg.), Dutch Archaeological and Historical Society, Amsterdam, 125-130.
Mellink, Machteld (1964): “Lycian Wooden Huts and Sign 24 on the Phaistos Disk”. Kadmos 3, 1-7.
Rietveld, Lia (2004): “The Text”. In: The Phaistos disc: A Luwian letter to Nestor. Winfried Achterberg et al. (Hg.), Dutch Archaeological and Historical Society, Amsterdam, 85-95.