Die homerischen Epen

Seit 1871 wird Pergamon (im Bild das Trajaneum aus römischer Zeit) intensiv erforscht. Trotzdem ist bis heute wenig über die spätbronzezeitliche Besiedlung des Orts bekannt.
Mittelalterliche Gebäude nahe der Oberfläche werden an vielen Fundstätten in der Türkei sorgfältig restauriert – wie hier in Laodikeia. Die Siedlungsreste der Luwier liegen mehrere Meter darunter.
Das sogenannte Midas-Monument war vermutlich Teil einer Kultstätte für die Göttin Kybele.
Die griechischen Kolonien in der Frühen Eisenzeit.

Da mit dem Zusammenbruch der Hochkulturen am Ende der Bronzezeit auch die Schriftkenntnis verloren ging, wurden die Erinnerungen an das heroische Zeitalter zunächst in mündlicher Überlieferung bewahrt. Homer, der als der erste Dichter des Abendlandes gilt, griff diesen sogenannten Epischen Zyklus auf, wandelte ihn jedoch für seine Zwecke ab. Die Popularität der Ilias und der Odyssee führte dazu, dass die mündlich überlieferten Erinnerungen an die historischen Ereignisse allmählich in Vergessenheit gerieten.

KENNTNISSTAND

Homer gilt als der erste Dichter des Abendlandes. Die vorherrschende Lehrmeinung siedelt ihn im 8. Jh. v. Chr. an. Im Zentrum seiner Epen, der Ilias und der Odyssee, steht der Trojanische Krieg. Homer hatte den Stoff für seine Dichtung den Erzählungen des großen Epischen Zyklus entnommen, die nach dem Verlust der Schreibkunst mündlich von Generation zu Generation weitergegeben worden waren und in denen sich das griechische Volk ein Andenken an das heroische Zeitalter der späten Bronzezeit bewahrte.

Homer nutzte die Schrift, die in einer völlig neuen und noch heute gebräuchlichen Form wiedereingeführt wurde, um seine Dichtungen für die Nachwelt zu erhalten. Durch die überragende literarische Qualität erzielte das Werk bald einen Riesenerfolg. Zwar ging es Homer nicht in erster Linie darum, historische Fakten zu überliefern. Die Popularität der Ilias und der Odyssee bewirkte jedoch, dass es mündlich überlieferte Erinnerungen an die historischen Ereignisse verdrängte und die Ereignisse in Homers Epen an ihre Stelle traten.

Homer verwendete also einen allgemein bekannten Stoff als Grundlage seiner Dichtung. Um seine Kunstfertigkeit zum Ausdruck zu bringen und dadurch sein Publikum anspruchsvoll zu unterhalten und zum Nachdenken anzuregen, wandelte er die bekannten Erzählungen ab. Sowohl seine Themen wie auch die Darstellung musste Homer so wählen, dass ihm die Aufmerksamkeit des Publikums sicher war. Daher finden sich in seinen Epen viele Helden- und Liebesgeschichten.

Manche Elemente in Homers Dichtung lassen sich mit großer Sicherheit bis in die Bronzezeit zurückverfolgen. Dazu zählen zum Beispiel Formulierungen und Ausdrücke, die sich schon auf Linear-B-Tafeln der griechischen Paläste finden. Auch der sogenannte Schiffskatalog, in dem die griechischen Streitkräfte aufgezählt sind, reflektiert die Topografie am Ende der Bronzezeit. Selbst die heroischen Schlachten zwischen Streitwagenbataillonen fanden im östlichen Mittelmeer nur bis etwa 1200 v. Chr. statt und werden in ähnlicher Form gelegentlich auch in den hethitischen Texten erwähnt.

ANREGUNGEN

Auf das Goldene Zeitalter folgte ein Bürgerkrieg

Die beiden Werke Homers sind möglicherweise nicht auf einen einzigen Verfasser zurückzuführen. Passagen wie Odysseus’ Rückeroberung seines Palastes in Ithaka erscheinen fast wie Augenzeugenberichte – nur der Barde durfte am Leben bleiben, um über das Gesehene berichten zu können. Die Beschreibung der Landschaft Trojas hingegen haben die Verfasser wohl im 8. Jh. v. Chr. geschrieben oder umfassend revidiert, denn von den Außenbezirken der Stadt findet sich bei Homer kein Wort mehr. Andere lange Passagen, darunter die Schiffskataloge und allen voran die Reisen des Odysseus (Odyssee 9.-12. Gesang), sind vielleicht vollständig aus fremden Quellen übernommen.

Der amerikanische Gräzist Gregory Nagy von der Harvard-Universität und seine Schüler vertreten diesen Ansatz. Für eine solche Interpretation spricht unter anderem, dass es keine Erinnerung an Homer als Person gibt. Hätte er tatsächlich im 8. oder 7. Jh. v. Chr. gelebt, müssten sich Anekdoten über ihn bewahrt haben, wie dies zum Beispiel bei Hesiod der Fall war. Homer erscheint aber eher wie Herakles – als Personifizierung herausragender Leistungen, um diese verständlicher und leichter übertragbar zu machen.

Der Troja-Ausgräber Wilhelm Dörpfeld vertrat die Ansicht, Homer habe im 12. Jh. v. Chr. gelebt, etwa eine Generation nach dem Trojanischen Krieg. In diesem Fall wäre er einer der ursprünglichen Dichter der Epen gewesen, aber natürlich nicht der Verfasser des Gesamtwerks, das rund vierhundert Jahre später entstand. Laut einem Fragment von Diodor (7.2) ist Homer „vor der Rückkehr der Herakliden“ gestorben. Da Diodor den Trojanischen Krieg auf 1184 v. Chr. datiert und nach seiner Aussage 80 Jahre bis zur Rückkehr der Herakliden verflossen, müsste der Verfasser des ursprünglichen Gedichtes vor 1104 v. Chr. gelebt haben (siehe Wirth 1993, 519 und 524).

Es waren zweifellos geniale Dichter, die den Kern der Gesänge verfassten. Möglicherweise kannten sie oder ihre Väter die königlichen Höfe des heroischen Zeitalters noch aus eigener Anschauung. Bewunderung gebührt aber auch denjenigen, die diese Gesänge über viele Generationen mündlich bewahrten und überlieferten. Schließlich gibt es die eigentlichen Redakteure, die das Werk im 8. Jh. v. Chr. aufschrieben und vermutlich umfangreiche Recherchen anstellten, vielleicht auch sachdienliche Reisen unternahmen. Rund tausend Jahre liegen zwischen dieser ersten Niederschrift und den ältesten uns überlieferten Versionen, zu denen der Londoner Homer-Papyrus aus der ersten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. sowie der Berliner Homer-Papyrus aus dem 3. Jh. n. Chr. gehören.

LITERATUR

Dué, Casey (2009): “Epea Pteroenta: How We Came to Have Our Iliad.” In: Recapturing a Homeric Legacy – Images and Insights From the Venetus A Manuscript of the Iliad. Casey Dué (ed.), Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, 19-30.
Nagy, Gregory (2010): Homer the Preclassic. University of California Press, Berkeley, 1-414.
Wirth, Gerhard (1993): Diodoros: Griechische Weltgeschichte, Buch I-X, 2. Teil. Anton Hiersemann, Stuttgart, 1-660.