Die mykenische Kultur auf dem griechischen Festland bestand aus Dutzenden voneinander unabhängigen Kleinkönigreichen und Fürstentümern. Die Hintergründe ihres Untergangs, der um 1200 v. Chr. begann, werden von den Wissenschaftlern bis heute diskutiert. Die Ursachen ließen sich möglicherweise besser verstehen, wenn man neben Architektur, Kunstgeschichte und Philologie stärker auch die Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Technologie in den Untersuchungen berücksichtigen würde.
KENNTNISSTAND
Die mykenische Kultur bestand von etwa 1600 bis 1200 v. Chr. Sie gilt als die erste Hochkultur auf dem europäischen Festland und befand sich zu Beginn unter deutlichem Einfluss der minoischen Kultur auf Kreta. Nach weitreichenden Zerstörungen der minoischen Paläste auf Kreta um 1430 v. Chr. stiegen die Mykener zur führenden Macht in der Ägäis auf. Ihr Fernhandel dehnte sich spürbar aus, so dass mykenische Schiffe Zypern, Syrien und Ägypten erreichten. Briefe im Archiv der hethitischen Hauptstadt Hattuša belegen eine aktive Teilnahme der Mykener im internationalen Netz der Geschenkdiplomatie. In Griechenland gefundene Linear-B-Tafeln gewähren detaillierte Einblicke in den Warenverkehr.
Mit großer Wahrscheinlichkeit gab es auf dem griechischen Festland nie ein eigentliches mykenisches Reich, sondern verschiedene voneinander unabhängige Kleinstaaten, darunter die Königreiche von Mykene, Tiryns und Pylos. Die herrschende Oberschicht ließ prächtige Palastanlagen errichten und kontrollierte nicht nur die Politik, sondern auch den Handel. Um die Königshöfe herum siedelten sich Kunsthandwerker an, die unter anderem gefragte hochwertige Keramikgefäße und filigranen Goldschmuck herstellten. Es gab auch regelrechte Textilfabriken, in denen vor allem Frauen arbeiteten. Der größte Teil der Bevölkerung lebte von Ackerbau und Viehzucht und unterlag diversen Abgabe- und Frondienstpflichten. Es ist denkbar, dass diese Unterdrückung der abhängigen Bevölkerung zum Untergang der mykenischen Kultur beitrug.
Um etwa 1250 v. Chr. ließen die Könige von Mykene und Tiryns ihre Burganlagen erweitern und mit zyklopischen Mauern versehen. Nach 1200 v. Chr. ereigneten sich dann auf dem südlichen griechischen Festland zeitversetzt Zerstörungen, die allmählich alle Regionen erfassten und das Ende der mykenischen Kultur einleiteten, die Homer 500 Jahre später als das „heroische Zeitalter“ bezeichnen sollte. Verschiedene kulturelle Errungenschaften, die mit der Palastverwaltung verbunden waren – insbesondere die Schriftkenntnis – gingen verloren. Einige Siedlungen wurden zerstört, manche komplett verlassen, während andere neu entstanden. Es gibt viele Hypothesen zu den Ursachen dieser umfassenden Zerstörung, aber bis heute konnte keine Erklärung restlos überzeugen. Die mykenische Kultur blieb auf niedrigerem Niveau noch eine Zeit lang bestehen.
ANREGUNGEN
Politik, Wirtschaft und Technologie in der Bronzezeit
Der Begriff „mykenische Kultur“ entstand erst Ende des 18. Jh. und ist etwas irreführend, weil er eine Führungsrolle für die Könige der Burg Mykene impliziert. Homer und antike Autoren nennen ihre bronzezeitlichen Vorfahren meist „Achäer“, womit die Angehörigen aller griechischen Stämme gemeint sind. Keine Volksgruppe wird als besonders herausgehoben. Das 2. Jt. v. Chr. auf dem griechischen Festland ist außerordentlich gut erforscht, und die oben genannten allgemeinen Erkenntnisse dürfen daher als weitgehend unumstritten bezeichnet werden.
Die Untersuchung der mykenischen Kultur stützt sich, wie die anderer früher Kulturen auch, auf die drei wichtigsten Säulen der Altertumskunde: Architektur, Kunstgeschichte und Philologie. Folglich beschäftigt sich die Archäologie überwiegend mit Bauresten, Artefakten und den Linear-B-Texten der mykenischen Zeit und rekonstruiert mit deren Hilfe auch die bronzezeitliche Gesellschaft. Unsere heutige Gesellschaft wird allerdings kaum von Architektur, Kunstgeschichte und Philologie geprägt, viel stärker sind wir den Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Technologie unterworfen. Folgt man dem Aktualitätsprinzip („Die Gegenwart ist der Schlüssel zur Vergangenheit“), so müsste die mykenische Kultur wie unsere modernen Gesellschaften vor allem von Politik, Wirtschaft und Technologie geprägt gewesen sein. Die weitere Erforschung der mykenischen Kultur wäre dann besonders vielversprechend, wenn sie diese Faktoren in den Vordergrund stellt. Tatsächlich fanden Hydrologen in der Nähe praktisch aller größeren mykenischen Siedlungen ausgeklügelte Wasserbauwerke, darunter Staudämme, Flussumleitungen, Dränagen und künstliche Hafenanlagen. Leider sind Wasserbau, Ingenieurkunst, Wirtschaftsgeografie und Nautik noch keine Forschungsschwerpunkte innerhalb der Altertumskunde.
Der griechischen Überlieferung zufolge sind die charakteristischen zyklopischen Mauern von Tiryns und Mykene mit Hilfe von Ingenieuren aus Lykien entstanden (Strabon 8.6.11, Bacchylides 10.77, Apollodorus 2.2.1, Pausanias 2.25.8). Dafür spricht, dass die Bauweise tatsächlich in Kleinasien verbreitet war, wie unter anderem das Löwentor in Hattuša belegt. Das Relief über dem Löwentor in Mykene ist die älteste Monumentalplastik Europas und in der Zeit seiner Entstehung (ca. 1250 v. Chr.) einzigartig – in Griechenland. In Kleinasien hingegen gibt es über 150 heute noch bekannte Halbreliefs aus dieser Zeit. Da Lykien zum Kerngebiet Luwiens zählt, könnte man folgern, dass eines der wichtigsten Merkmale der mykenischen Kultur – die zyklopische Architektur – in Luwien seinen Ursprung hatte und durch Wissenstransfer nach Mykene kam.
Zu den Ursachen des Untergangs der mykenischen Epoche siehe Seevölker/Bürgerkrieg.