Die Unterstadt von Troja

Wissenschaftler waren jahrzehntelang der Ansicht, dass Troja eine äußerst bescheidene Größe hatte. Der Ausgräber Manfred Korfmann schloss sich dieser Überzeugung zunächst an, revidierte jedoch später seine Meinung und löste damit einen heftigen Streit vor allem unter deutschen Altertumsforschern aus. Überzeugende Reste einer Unterstadt konnten bis heute nicht gefunden werden. Vielleicht hat man an der falschen Stelle gesucht: Die Unterstadt muss sich keineswegs direkt an die Festungsmauern angeschlossen haben. Viele antike Quellen besagen, sie hätte weiter unten in der Ebene gelegen und sei dort unter einigen Metern Schlamm verschüttet. In Bohrungen wurden artefaktreiche Schichten fünf Meter unter der heutigen Oberfläche gefunden.

KENNTNISSTAND

Schliemann kam schon früh zum Schluss, dass sich das prähistorische Troja exakt auf die Ausdehnung seiner Grabungen beschränkte. Die geringe Größe von 180 x 160 Metern stand dabei im krassen Gegensatz zu allen historischen Beschreibungen der Stadt. Zu seinen Lebzeiten wurde Schliemann deswegen von den Gelehrten heftig kritisiert, viele lehnten die Identifikation der Fundstätte mit Troja sogar ab.

Nach Schliemanns Tod setzte sich dann die Auffassung durch, dass Troja tatsächlich nur eine bescheidene Größe hatte. In den 1960er Jahren vertrat Kurt Bittel, der damalige Präsident des Deutschen Archäologischen Instituts und langjährige Ausgräber von Hattuša, die Ansicht, Troja sei lediglich ein Piratennest gewesen. Der britische Archäologe John Bintliff kam sogar zum Schluss, dass Troja ein Fischerdorf mit nicht mehr als 100 Seelen war. Diesem vorherrschenden Zeitgeist schloss sich Manfred Korfmann an, als er 1988 Ausgräber von Troja wurde. Auf Konferenzen, im persönlichen Gespräch, in Medieninterviews und in wissenschaftlichen Publikationen spielte er die Bedeutung Trojas herunter und griff Bittels Begriff „Piratennest“ auf.

Im April 1991 änderte Korfmann seine Meinung über die Größe Trojas grundlegend. In der Folge, bis zu seinem Tod 2005, revidierte er seine Größenvorstellungen von Troja mehrfach, bis er die Ausdehnung der bekannten Siedlung als zwanzigmal größer als ursprünglich angenommen ansah. Dabei ging Korfmann davon aus, dass sich eine dicht besiedelte Unterstadt unmittelbar an die Festungsmauern von Troja VI anschloss, obwohl sich dort praktisch keine Baureste finden ließen. Seine Thesen über die Größe und Bedeutung Trojas stießen jedoch vor allem ab 2001 auf Widerstand und führten zu einem erbitterten Streit innerhalb der deutschen Altertumswissenschaften. Die von persönlichen Angriffen gezeichnete Diskussion zwischen Korfmann und seinem Tübinger Kollegen und Althistoriker Frank Kolb ist als „Troja-Debatte“ bekannt geworden.

Im Rahmen einer geophysikalischen Prospektion im Jahr 1993 entdeckte der Münchner Geophysiker Helmut Becker eine magnetische Anomalie, die Manfred Korfmann zunächst als Troja-VI-zeitliche Lehmziegelmauer mit hölzernen Wehrtürmen interpretierte. Seiner Ansicht nach war sie zum Machtbeweis errichtet worden und nach einem katastrophalen Brand eingestürzt. Ausgrabungen im Jahr darauf zeigten dann jedoch, dass ein künstlicher Einschnitt ins Festgestein die Anomalie verursachte. Die weitere Untersuchung dieses knapp vier Meter breiten Grabens, der sich vierhundert Meter außerhalb der Akropolis erstreckte, absorbierte die Kapazitäten der Ausgräber fast zwanzig Jahre lang, ohne jedoch zu nennenswerten neuen Erkenntnissen zu führen. Manfred Korfmann und sein Nachfolger Ernst Pernicka deuteten den Graben als Annäherungshindernis für Streitwagen.

ANREGUNGEN

Zwanzig Jahre Ausgrabungen im Schlosspark

Korfmanns Kehrtwende in Bezug auf die Grösse von Troja im April 1991 fällt auf den Zeitpunkt, als er erstmals den Geoarchäologen Eberhard Zangger traf. In jenem Sommer ermutigte Korfmann Ilhan Kayan, die künstlichen Gräben und Kanäle der Landschaft um Troja zu untersuchen. Zudem begann er, mit geophysikalischer Prospektion nach einer Unterstadt ausserhalb der Burg zu suchen.

Die Funktion von Gräben lässt sich oft schon durch deren Füllungen erahnen. Pfeilspitzen, Bronzewaffen, Knochensplitter und Reste von Streitwagen würden auf einen Verteidigungsgraben schließen lassen. In den Gräben auf Hisarlık haben die Altertumskundler jedoch nichts dergleichen finden können. Stattdessen fanden sie Pollen vieler verschiedener, zum Teil exotischer Pflanzenarten. Auch ein komplettes Stierskelett lag im Graben. Es ist daher vorstellbar, dass sich außerhalb der Burgmauern von Troja VI ein ausgedehnter Schlosspark erstreckte. Demnach sind dort kaum Gebäudereste zu erwarten. Die ringförmigen Gräben hinderten die heiligen Stiere, die sich in Teilen des Parks bewegen durften, am Fortlaufen. Sie könnten zusätzlich auch als symbolische Schutzringe interpretiert werden: Als Labyrinth angelegt, sollten sie böse Geister fernhalten. Dies würde erklären, warum Achilles die Leiche Hektors um die Stadtmauern schleifte. Auf diese Weise brach er den Bann, der über Troja herrschte. Die Stadt war damit dem Untergang geweiht.

Die königlichen Residenzen der sechsten und siebten Stadt von Troja standen auf ringförmigen Terrassen, so dass der innerste Bezirk kreisförmig aufgebaut war. Diese Kreisschalenstruktur setzte sich in den Gräben außerhalb der Festungsmauern fort. Tatsächlich hat man konzentrische Ringe in Labyrinthform während der gesamten Antike eng mit dem Namen der Stadt Troja verbunden. Ritzungen auf einer Weinkanne aus dem römischen Tragliatella (um 620 v. Chr.) stellen einen „Troja-Tanz“ dar, der im frühen Italien vor allem bei Stadtgründungen, bezeichnenderweise vor der Errichtung der Mauern, aufgeführt wurde. Hunderte von Steinlabyrinthen in England und Skandinavien tragen Bezeichnungen, die von Troy Town bis Trelleborg reichen. Deswegen haben Fachleute schon vor einem halben Jahrhundert die Erwartung geäußert, im Stadtplan von Troja eine labyrinthförmige Anordnung wiederentdecken zu können. Es ist also denkbar, dass sich die kreisförmige Struktur in der Ebene unterhalb der Burg – mit Gräben dort dann auch in Form schiffbarer Kanäle – fortsetzte.

Texte aus der Antike bis ins späte Mittelalter weisen darauf hin, dass sich die eigentliche Stadt Troja in der Ebene unterhalb der Königsburg Ilion erstreckte (z.B. Diodor 4.75.3; William Gell 1804, 121). Dort lagen vermutlich die Wohnräume der Bevölkerung, die Werkstätten der Handwerker, die Garnisonen und Hafenbezirke. Verschiedene Quellen beschreiben, wie die Reste der Stadt nach der Zerstörung durch die Griechen buchstäblich im Schlamm versanken (Homer, Ilias 12.16-33; Strabon 1.3.17; Dion Chrysostomos 11.76; Quintus von Smyrna 14.646-652; siehe auch Platon, Timaios 25d). In fast 150 Jahren Forschungsgeschichte in Troja haben sich jedoch alle Ausgrabungen auf den Hügel Hisarlık beschränkt, der aufgrund seiner Höhe sicher niemals von einem Schlammstrom betroffen war. Mit anderen Worten: Die eigentliche Unterstadt Trojas dürfte unter einigen Metern Kies und Auelehm in der Ebene verborgen liegen. Die von Ilhan Kayan durchgeführten rund 300 Bohrungen zur Untersuchung der Stratigrafie in der Ebene haben denn auch mächtige mit Artefakten durchsetzte Schichten erschlossen. Die verschüttete Unterstadt von Troja könnte demnach in der Ebene bereits gefunden worden sein. Auf der Suche nach den Überresten der eigentlichen Stadt Troja bräuchten Archäologen also nur einen fünf bis sechs Meter tiefen Graben dreihundert Meter westlich von Hisarlık anzulegen – um eine bahnbrechende Entdeckung zu machen, die selbst Heinrich Schliemanns Leistungen übertreffen würde.

LITERATUR

Gell, William (1804): The Topography of Troy and its Vicinity. Whittingham, London, 1-124.
Kern, Hermann (1982): Labyrinthe – Erscheinungsformen und Deutungen: 5000 Jahre Gegenwart eines Urbildes. Prestel, München, 1-492.
Knight, W. F. Jackson (1932): “Maze Symbolism and the Trojan Game.” Antiquity 6, 445-458.
Kolb, Frank (2010): Tatort “Troja”. Ferdinand Schöningh, Paderborn, 1-310.
Korfmann, Manfred (2003): “Some Observations on Equating Troia with the ‘Atlantis Myth’” In: From Villages to Towns. Studies Presented to Ufuk Esin. Mehmet Özdogan, Harald Hauptmann & Nezih Basgelen (eds.), Arkeoloji ve Sanat Publications, Istanbul, 1-20.
Lenz, Carl Gotthold (1798): Die Ebene von Troia. Michaelis, Neu Strelitz, 1-306.
Schliemann, Heinrich (1874): Bericht über die Ausgrabungen in Troja in den Jahren 1871 bis 1873. Nachdruck 1990, Artemis, München/Zürich, 1-312.
Zangger, Eberhard (2001): The Future of the Past – Archaeology in the 21st Century. Weidenfeld & Nicolson, London, 1-270.
Zangger, Eberhard & Serdal Mutlu (2015): “Troia’daki Yapay Limanlar ve su Mühendisliğı: Bir Jeo-Arkeolojik Çalışma Hipotezi.” Olba – Mersin Üniversitesi Kilikia Arkeolojisini Araştırma Merkezi yayınları 23.