Diktys von Kreta

Jacob Perizonius etablierte 1702 die noch heute gültige Lehrmeinung, wonach die angeblichen Augenzeugenberichte von Dares und Diktys komplett erfunden sind.

Der lateinische Roman Ephemeris belli Troiani ist als Augenzeugenbericht des Kreters Diktys konzipiert, der auf der Seite der Mykener im Trojanischen Krieg gekämpft haben soll. Das Werk, das anders als die Ilias und die Odyssee ganz ohne Götter auskommt, stand im Mittelalter und in der frühen Neuzeit zusammen mit Dares im Mittelpunkt der Troja-Rezeption. Interessant ist unter anderem, dass laut Diktys nicht etwa die Mykener, sondern die Trojaner den Krieg auslösten und dass die Griechen darauf reagierten, indem sie über die Küstenstädte im Nordwesten Kleinasiens herfielen.

KENNTNISSTAND

Die Ephemeris belli Troiani des Diktys von Kreta (Dictys Cretensis) ist ein lateinischer Roman über den Trojanischen Krieg in sechs Büchern. Er basiert auf einem griechischen Text aus dem 1. oder 2. Jh., der bis auf zwei Papyrusfragmente verloren gegangen ist. In seiner lateinischen Fassung entstand das Werk im 3. oder 4. Jh. durch die Bearbeitung von Lucius Septimius. Die Ephemeris belli Troiani nimmt für sich in Anspruch, auf dem Augenzeugenbericht des Kreters Diktys zu beruhen, der auf griechischer Seite im Trojanischen Krieg kämpfte. Im Jahr 66 v. Chr. sollen dessen Aufzeichnungen angeblich durch Zufall in seinem Grab entdeckt worden sein. Es ist aber keineswegs erwiesen, dass die Beschreibung vom Auffinden der Diktys-Originale authentisch ist. Der Chronist, der Kreter Diktys, soll seinen König Idomeneus von Knossos nach Troja begleitet haben und einen progriechischen Bericht über die Belagerung und Eroberung der Stadt verfasst haben.

Anders als Homer verzichtet Diktys vollkommen auf göttliche Eingriffe. Dadurch erhält der Bericht einen moderneren und authentischeren Charakter. Im 12. Jh. wurde das Werk wiederentdeckt; anschließend erhielt es herausragende Bedeutung für die Rezeption des Troja-Stoffes im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Für byzantinische Gelehrte war Diktys die größte Autorität betreffend Troja, gefolgt von Homer, Euripides und Vergil. In Westeuropa war die Reihenfolge der Autoritäten: Dares, Diktys, Vergil und Ovid.

Die Geschichte aus dem Journal des Diktys adressiert ein sachkundiges und anspruchsvolles Publikum mit amüsanter Prosa. Von der Spätantike an wurde Diktys sogar wörtlich genommen. Im Mittelalter, als Homers Ilias als verloren galt oder nur in einer gekürzten Version bekannt war, bildete der Roman des Diktys zusammen mit dem des Dares die Grundlage des historischen Wissens über den Trojanischen Krieg. Schließlich etablierte der niederländische Altphilologe Jacob Perizonius im Jahr 1702 die noch heute gültige Lehrmeinung, wonach die Texte von Diktys und Dares völlig frei erfunden seien. Diese Lehrmeinung entstand also, knapp 20 Jahre nachdem osmanische Truppen Wien erobern wollten – und 170 Jahre bevor Troja auf dem Hügel Hisarlık wiederentdeckt wurde.

ANREGUNGEN

Die Griechen griffen luwische Hafenstädte an

Laut Diktys löste Troja und nicht etwa das mykenische Griechenland den Trojanischen Krieg aus. Er schildert, wie Priamos’ Söhne beabsichtigten, „den ganzen Krieg, den sie vorbereitet hatten, nach Griechenland hinüberzutragen“ (2.8). Die Vorstellung, dass Griechenland in frühgeschichtlicher Zeit von einem Aggressor bedroht wurde, findet sich auch bei Platon (Timaios 25b), steht aber im Widerspruch zu Homer.

Die Griechen reagierten, indem sie über die Küstenstädte im Nordwesten Kleinasiens herfielen. So heißt es vom griechischen Helden Aias, er „fiel mit feindlicher Absicht in die mit Troja befreundete Nachbarschaft ein. Er besetzte die reichen Städte Pitya und Zelea, und damit nicht zufrieden, verwüstete er das gargarische Arisba, Gergitha, Skepsis und Larissa“ (2.27). Aias betrat auch „phrygisches Land, richtete dort viel Unheil an und eroberte Städte; dann kehrte er nach einigen Tagen mit Beute beladen als Sieger zum Heere zurück“ (2.41).

Gemäss Diktys war Troja demnach in eine Umgebung von befreundeten und wohlhabenden Nachbarorten eingebettet – spätbronzezeitliche Städte, nach denen jedoch bis heute kaum systematisch gesucht wurde. Auch Lesbos gehörte laut Diktys zum trojanischen Einflussbereich. Da die Insel heute zu Griechenland zählt, ist sie archäologisch gut erforscht. Die Ausgrabungen zeigen, dass die materielle Kultur der Spätbronzezeit tatsächlich komplett mit der von Troja übereinstimmt. Falls die einzelnen Angaben in Diktys’ Bericht Fiktion sind und nicht historischen Tatsachen entsprechen, wären sie also im Hinblick auf die Aussagen zu Lesbos zumindest wirklich gut erfunden.

Bündnispartner aus Äthiopien und sogar Indien sollen Troja zu Hilfe gekommen sein (4.4), was unter anderem dazu führte, dass „viele Männer mit rohen Sitten und ungleicher Sprache, gewohnt, ohne jede Ordnung und Disziplin in den Kampf zu gehen“, an der Seite der Trojaner standen (2.35). Die Schiffe der Verbündeten liefen von Osten kommend zunächst Rhodos an und erkannten sofort, „dass diese Insel mit den Griechen verbündet war“ (4.4) – ein weiterer Sachverhalt, der inzwischen ebenfalls durch den Ausgrabungsbefund eindeutig belegt ist.

Diktys zählt die trojanischen Verbündeten auf und unterscheidet dabei zwischen politisch Alliierten, die durch Vertrag verpflichtet waren, Troja zur Seite zu stehen, und Söldnerheeren, die für teures Geld angeheuert werden mussten. Diese Art der gegenseitigen Hilfeleistung entsprach durchaus den gängigen Praktiken in der späten Bronzezeit, wie sie den schriftlichen Zeugnissen aus Hattuša, Ugarit und Theben zu entnehmen sind.

Diktys erwähnt auch an einer Stelle (2.18), dass die Griechen spezielle Lastschiffe für Beute mitgeführt hätten. Die Unterscheidung zwischen leichten Kriegsschiffen, die auf den Strand gezogen werden konnten, und dickbauchigen Lastschiffen ist besonders aufschlussreich. Viele Altphilologen haben bisher angenommen, auch Handelsschiffe seien, wie die Schiffe der Invasoren in der Ilias, auf den Strand gezogen worden. Tatsächlich müssen schwere Handelsschiffe wie das von Uluburun an Kaimauern angelegt haben, da sie zu zerbrechen drohten, wenn man sie an Land zog.

LITERATUR

Hradský, Wolfgang (2005): Der Krieg gegen Troia – wie er wirklich war. Die beiden “Augenzeugen”-Berichte des Dares aus Phrygien und des Diktys von Kreta. docupoint, Magdeburg, 1-213.
Smids, Ludolph & Jakob Perizonius (1702): De bello Trojano – Cretensis Dictys et Dares Phrygius. Amsterdam.