Kosmo­­logie

Kartierung von Kosmos und Ritual in hethitischem Stein

Sonnenuntergänge zu den Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen während eines Jahres vom Griffith Observatory in Los Angeles aus gesehen (Collage von Mike Kelley im Auftrag von © Luwian Studies #5036)

Das Felsheiligtum Yazılıkaya und seine Bedeutung

Seit ihrer Gründung im Jahr 2014 untersucht die Stiftung Luwian Studies, inwiefern wissenschaftliche Methoden helfen können, die kosmologischen und religiösen Vorstellungen der Luwier und der Hethiter zu entschlüsseln. Im Zentrum dieser Forschung steht das Felsheiligtum von Yazılıkaya, das in unmittelbarer Nähe der hethitischen Hauptstadt Hattuša liegt. Yazılıkaya gilt als eine der heiligsten Stätten des 13. Jahrhunderts v. Chr. in Anatolien. Das Heiligtum liegt direkt außerhalb der Stadtmauern von Hattuša und gehört zusammen mit der Stadt seit 1986 zum UNESCO-Weltkulturerbe.

Die Anlage umfasst über 90 kunstvolle Reliefdarstellungen von Göttern und Fabelwesen, die in zwei natürlichen Kammern auf Augenhöhe in fast senkrechte Kalksteinwände gemeißelt wurden. Sie bilden eine eindrucksvolle visuelle Erzählung. Seit Charles Texier 1834 als erster westeuropäischer Archäologe die Stätte dokumentierte, versuchen Wissenschaftler, die Bedeutung dieser Reliefs zu entschlüsseln. Obwohl ihre göttliche Natur offensichtlich ist – viele Figuren tragen das luwische Hieroglyphenzeichen für Gottheit –, blieb die Struktur und Bedeutung des Pantheons ein Rätsel, was auch zur Anziehungskraft der Stätte beiträgt.

Hethitisches Felsheiligtum in Yazılıkaya, Reliefs männlicher Gottheiten an der Westwand der Kammer A (© Luwian Studies #1209)

Das Relief mit den höchsten Gottheiten des hethitischen Pantheons in Kammer A des Felsheiligtums von Yazılıkaya (© Luwian Studies #1216)

Die Lydier, Phrygier, Mysier und Lykier, welche das Alterthum als Zweige eines und desselben Volkes betrachtete.

Kosmischer Kalender in Stein

Die Archäologen Eberhard Zangger und Rita Gautschy wiesen 2018 nach, dass die Figuren in Kammer A von Yazılıkaya in Gruppen von 12, 30, 5 und 19 angeordnet sind – Zahlen mit astronomischer Bedeutung. 12 mal 30 plus 5 ergibt 365, die exakte Länge des Sonnenjahres. Zusammen ergeben diese Zahlen einen Lunisolarkalender, weil sie den himmlischen Zyklen entsprechen: 12 steht für die Mondmonate, 30 für die maximale Anzahl der Tage in einem Mondmonat, während die 19 (heute 17) weiblichen Figuren auf der gegenüberliegenden Seite den Sonnenjahren und dem Metonischen Zyklus entsprechen – einem 19-jährigen Schema, das Mond- und Sonnenkalender synchronisiert.

Dieser Kalender ermöglichte es den hethitischen Priestern, religiöse Feste präzise zu bestimmen und sie mit astronomischen Ereignissen sowie dem landwirtschaftlichen Jahresverlauf abzustimmen. Die Entdeckung belegt das fortgeschrittene astronomische Wissen der Hethiter und dessen enge Verknüpfung mit ihrem religiösen und alltäglichen Leben.

Die Symbolik des Kosmos

Weitere Forschungen von Zangger und Gautschy am Felsenheiligtum von Yazılıkaya, an denen nun auch der Astronom E. C. Krupp und der Althistoriker Serkan Demirel beteiligt waren, ergaben, dass die Figuren des Heiligtums zusätzlich einem dreigeteilten Kosmos zugeordnet werden können: Himmel, Erde und Unterwelt. In Mesopotamien und Ägypten spiegelt häufig die Architektur die verschiedenen Elemente des Kosmos wider. In Yazılıkaya ist das gleiche Konzept auf einzigartige Weise in die natürliche Umgebung integriert.

Kammer A entspricht der Erde und dem Himmel und zeigt die Gottheiten, die über diese Sphären wachen, wobei die Hauptgruppe einen Bezug zur zirkumpolaren Region des Himmels besitzt und damit die Stabilität der kosmischen Ordnung gewährleistet. Kammer B hingegen wird von Nergal, dem Gott der Unterwelt, dominiert. Er verkörpert Tod, Wiedergeburt, die zyklische Natur der himmlischen Bewegungen und die jahreszeitlich bedingte Wiedergeburt der Natur. Das Universum war also in der Vorstellung der Hethiter von Gottheiten unterschiedlichen Ranges bewohnt. Yazılıkaya reflektiert die hethitische Weltsicht, in der Natur und Religion auf harmonische Weise miteinander verbunden waren.

Die Westwand der Kammer B im Felsenheiligtum von Yazılıkaya ist 12 Meter hoch (© Luwian Studies #1230)
Die Fundamente des ersten Gebäudes, das vor den Kalksteinfelsen von Yazılıkaya errichtet wurde, sind auf den Sonnenuntergang zur Sommersonnenwende ausgerichtet (© Luwian Studies #1252)

Das zirkumpolare Reich und die göttliche Stabilität

Die Gottheiten auf der zentralen Tafel von Yazılıkaya, angeführt vom Sturmgott Teššub, stehen in Verbindung mit den zirkumpolaren Sternen, die nie untergehen und daher Stabilität symbolisieren. Diese Vorstellung findet sich in vielen antiken Kulturen, in denen der nördliche Himmel oft als Fixpunkt des Universums galt. Auch in Ägypten glaubte man, dass die Seele des Pharaos zu den „unvergänglichen Sternen“ aufsteigt.

Die Ausrichtung der wichtigsten Reliefs von Yazılıkaya auf diese Region deutet darauf hin, dass die Hethiter den zirkumpolaren Himmel als Ort betrachteten, von dem aus ihre höchsten Götter mit den irdischen Herrschern in Verbindung standen. Das bestätigt die zentrale Rolle des hethitischen Königs als Mittler zwischen Himmel und Erde, dessen Herrschaft durch göttliche Gunst legitimiert wurde. Indem er sich an den ewigen Zyklen des Kosmos orientierte, sollte er die Ordnung der Welt wahren und das irdische mit dem göttlichen Dasein verbinden.

Astronomische Ausrichtungen in Hattuša und Yazılıkaya

Die Grundrisse der Tempelkomplexe in Hattuša und Yazılıkaya zeigen deutliche Bezüge zu astronomischen Parametern, insbesondere zur Ausrichtung auf bedeutende Himmelspunkte wie den Sonnenuntergang zur Sommersonnenwende. In Yazılıkaya war bereits das erste vor dem Felsenheiligtum errichtete Tempelgebäude dementsprechend ausgerichtet, ebenso wie bestimmte Stadttore in Hattuša.

Ein besonders bemerkenswertes Element in Yazılıkaya ist ein exzentrisch platzierter Sockel im Hof des Tempelkomplexes, der möglicherweise eine Götterstatue trug, die nur einmal im Jahr während des Fests zur Sommersonnenwende von natürlichem Licht beleuchtet wurde. Nach dieser seltenen Epiphanie betraten die Teilnehmer die Kammer A, wo das Relief des Großkönigs in diesem Moment ebenso erhellt war. Dieser Effekt übertrug symbolisch die göttliche Stärke auf den König und verstärkte so sein Mandat als Vermittler zwischen Himmel und Erde.

The West Gate of Hattuša at sunset during the summer solstice
Das Westtor in Hattuša öffnet sich in Richtung Sonnenuntergang zur Sommersonnenwende, hier im Jahr 2015 (© Luwian Studies #1045)

Yerkapı, das höchste architektonische Bauwerk von Hattuša, ist strikt nach Norden ausgerichtet, wie in diesem Zeitrafferfilm zu sehen ist, wobei die Sternenspuren die kosmische Achse betonen (© Luwian Studies #1041)

Die künstlich errichtete Kammer 1 in Hattuša öffnet sich zum Sonnenuntergang bei der Wintersonnenwende, hier im Jahr 2018 (© Luwian Studies #1027)

Ein Vermächtnis des himmlischen Wissens

Wie andere Tempel des Alten Orients spiegelt auch Yazılıkaya eine Weltanschauung wider, in der die kosmische Ordnung das soziale und spirituelle Leben prägte. Seine Gestaltung vereint die statischen Horizonte des Kosmos mit den zyklischen Bewegungen der Himmelskörper und verankert so den Lauf der Zeit im religiösen Kontext. Die Vorstellung, dass Harmonie zwischen Himmel und Erde die Stabilität des Reiches sichert, fand hier ihren Ausdruck. Yazılıkaya bleibt damit ein eindrucksvolles Zeugnis für das menschliche Bestreben, den Kosmos zu verstehen und in die eigene Kultur einzubetten.

Das Felsheiligtum war jedoch kein isoliertes Monument, sondern Teil der hethitischen Weltanschauung, die die Natur und insbesondere die Abläufe am Himmel eng mit dem religiösen und politischen Leben verband. Archäoastronomische Untersuchungen zeigten, dass die Tempel in Hattuša und anderswo im hethitischen Reich häufig astronomisch ausgerichtet sind, was darauf hindeutet, dass religiöse Zeremonien bewusst mit himmlischen Zyklen synchronisiert wurden. Dies untermauert die Vorstellung, dass sich die Hethiter, ähnlich wie ihre mesopotamischen und ägyptischen Zeitgenossen, auf astronomische Beobachtungen stützten, um ihren Kalender zu strukturieren und die kosmische Harmonie zu bewahren.

Die Lage von Hattuša auf einer Höhe von über 1400 Metern über dem Meeresspiegel könnte ebenfalls bewusst gewählt worden sein, um einen ungehinderten Blick auf die wichtigsten Himmelserscheinungen zu ermöglichen. Königssitz und Heiligtum dienten somit nicht nur als heiliger Raum, sondern auch als Ort für astronomische Beobachtungen, an dem die göttliche Legitimität des Königs gestärkt wird, indem seine irdische Herrschaft mit der himmlischen Ordnung in Einklang gebracht wird.

Kosmische Übergänge und die Unterwelt

Kammer B von Yazılıkaya, wo der Unterweltgott Nergal zusammen mit zwölf identischen männlichen Gottheiten mit sichelförmigen Schwertern dargestellt ist, veranschaulicht einen zentralen Aspekt der hethitischen Weltsicht: den Zyklus von Tod und Wiedergeburt. Die Unterwelt galt im hethitischen Glauben nicht als endgültiger Bestimmungsort, sondern als Übergangsraum, in dem die himmlischen Zyklen jenseits der menschlichen Wahrnehmung fortbestanden. Diese Vorstellung ähnelt mesopotamischen Traditionen, in denen die nächtliche Reise der Sonne durch die Unterwelt als essenzieller Prozess zur Erneuerung der Zeit verstanden wurde. Die löwenköpfigen Dämonen am Eingang zu Kammer B markieren die Schwelle zwischen den Welten und erinnern an mesopotamische Schutzgeister, die Übergangsbereiche bewachten. Diese Elemente deuten darauf hin, dass Yazılıkaya nicht nur den sichtbaren Kosmos darstellt, sondern auch die verborgenen Kräfte, die Leben und Tod bestimmten.

Die in Yazılıkaya erkennbaren Strukturen und Prinzipien lassen sich inzwischen auch auf andere Denkmäler und Artefakte aus der Späten Bronze- und Frühen Eisenzeit anwenden. Dies ermöglicht es den Forschern, ein kohärenteres Bild der damaligen Weltanschauung zu rekonstruieren, zuvor rätselhafte Funde in einen verständlichen Zusammenhang zu setzen und den umfassenderen kulturellen sowie spirituellen Rahmen dieser Epoche zu erschließen.

Das Relief des Großkönigs Tudhaliya IV. in der Kammer A des hethitischen Felsheiligtums von Yazılıkaya wird nur zur Sommersonnenwende von natürlichem Sonnenlicht bestrahlt (© Luwian Studies #1221)