Luwier-Theorie und Seevölkerstürme: Eine Abfolge der Ereignisse

Im Spiegel-Artikel über die Enthüllungen im ehemaligen Arbeitszimmer von James Mellaart schreibt der Redakteur Frank Thadeusz über die Ideen von Eberhard Zangger: „Seine mit viel Dampf aufgeblasene Luwier-Theorie allerdings ist nun zusammengeschrumpelt auf die Größe eines betagten Luftballons.“ Verschiedene Medien – selbst Wikipedia-Autoren – haben diese Meinung aufgegriffen und schreiben zum Beispiel, Mellaarts Dokumente seien „eine wesentliche Stütze der Thesen von Zangger dafür, dass ein luwischer Staatenbund hinter dem Seevölkersturm und dem Untergang mehrerer großer Reiche der Bronzezeit stand“.

Das ist jedoch nicht der Fall. Zanggers „Luwier-Theorie“ umfasst zwei Komponenten: einerseits die Erkenntnis, dass es im Westen Kleinasiens über 400 bisher unerforschte Siedlungsplätze gibt, die in ihrer Gesamtheit einen eigenen Kulturkreis ausmachen; andererseits die These, dass die sogenannten Seevölker in dieser Region ihren Ursprung gehabt haben könnten.

Zanggers Theorien zum Seevölkersturm datieren in die Zeit, bevor er mit James Mellaart in Kontakt stand, und haben sich seither praktisch nicht verändert. Zangger und Mellaart haben – wie Dutzende andere Forscher – unabhängig voneinander erkannt, dass die Herkunft der Seevölker in Westkleinasien gelegen haben könnte.

Hier ein kurzer Überblick über die Abfolge der Ereignisse.

April 1994: Eberhard Zangger veröffentlicht das Buch „Ein neuer Kampf um Troia“ beim Droemer Verlag in München. Das Buch umfasst 352 Seiten und dreht sich um die Theorie des Autors, dass die Seevölker aus Westkleinasien stammten. Es bietet als Novität eine hypothetische chronologische Rekonstruktion der Ereignisse während des 13. Jahrhunderts v. Chr. im östlichen Mittelmeerraum.

Februar 1995: Der Spiegel widmet den Thesen von Eberhard Zangger einen mehrseitigen Artikel.

Mai 1995: Aramco World bringt eine Titelgeschichte von Eberhard Zangger mit einer populärwissenschaftlichen Zusammenfassung seiner Thesen zum Seevölkersturm.

Juli/August 1995: James Mellaart, der „Aramco World“ abonniert hat, schreibt zwei insgesamt 22 Seiten umfassende Briefe an Eberhard Zangger und teilt ihm darin mit, dass er ganz ähnliche Ideen bereits seit 1951 verfolge und sogar über englische Übersetzungen unveröffentlichter Dokumente verfüge, die diese Ideen untermauern würden. Angeblich seien Ende des 19. Jahrhunderts im Dorf Beyköy nahe Afyon Bronzetafeln mit Keilschrifttexten in hethitischer Sprache gefunden worden, die man bis heute nicht veröffentlicht habe. Mellaart fasst die Inhalte dieser „Beyköy-Texte“ in seinen Briefen zusammen. Seine Handschrift ist jedoch schwer leserlich und der Inhalt ausgesprochen kompliziert. Eberhard Zangger verfasst Ende 1999 eine Glosse über diese Geschichte für edge.org, wird der Sache aber 22 Jahre lang nicht weiter nachgehen. Der Inhalt der Briefe fließt bis Oktober 2017 in keine Veröffentlichung von Zangger ein.

September 2015: Im Rahmen des 11. Kolloquiums des Heinrich-Schliemann-Museums in Ankershagen stellt Eberhard Zangger seine Thesen zur luwischen Kultur in Westkleinasien vor. Im Frühjahr 2016 erscheint der Beitrag in den „Mitteilungen aus dem Heinrich-Schliemann-Museum Ankershagen“.

Dezember 2015: Eberhard Zangger lernt James Mellaarts Sohn Alan bei einer zufälligen Begegnung in einer Buchhandlung in Istanbul kennen. Im Gespräch erwähnt Zangger die Briefe des 2012 verstorbenen Prähistorikers.

Mai 2016: Das Buch „The Luwian Civilization – The Missing Link in the Aegean Bronze Age“ von Eberhard Zangger erscheint. Der Verfasser liefert auf 292 Seiten einen Einblick in den Kenntnisstand zur mittel- und spätbronzezeitlichen Siedlungsgeschichte in Westkleinasien.

Februar 2017: Eberhard Zangger übergibt Mellaarts Briefe dem holländischen Linguisten Fred Woudhuizen. Dieser transkribiert sie, so dass sie sich erstmals leicht lesen lassen. Zangger und Woudhuizen werten die Briefe gemeinsam aus.

April 2017: Alan Mellaart informiert Eberhard Zangger, dass er die englischen Übersetzungen der bronzezeitlichen Keilschrifttexte, von denen sein Vater gesprochen hatte, in dessen Nachlass gefunden hat.

Mai 2017: Zangger reicht das Manuskript für das Buch „Die Luwier und der Trojanische Krieg“ beim Orell Füssli Verlag in Zürich zur Veröffentlichung ein. Es enthält eine drei Seiten lange Zusammenfassung (S. 224-226) des Inhalts von James Mellaarts Briefen aus dem Jahr 1995. Diese neue Rekonstruktion der Ereignisse am Ende der Bronzezeit steht allerdings in erheblichem Widerspruch zu Zanggers bisherigen Thesen.

Juni 2017: In der ehemaligen Wohnung seiner Eltern übergibt Alan Mellaart einen Stapel von Dokumenten, die sein Vater als besonders wichtig markiert hatte, zur Auswertung und Publikation an Eberhard Zangger. Den Löwenanteil machen dabei die Übersetzungen der angeblichen keilschriftlichen „Beyköy-Texte“ aus. Zangger lässt diese jedoch beiseite – er hat sie bis heute nicht gelesen – und konzentriert sich stattdessen auf die Zeichnungen verschiedener luwischer Hieroglypheninschriften, die sich ebenfalls im Stapel befinden. Die größte von ihnen soll wie die Keilschrifttexte aus Beyköy stammen. Zangger sendet diese Hieroglypheninschrift an Fred Woudhuizen zur Beurteilung. Woudhuizen erkennt auf den ersten Blick, dass sie eine Zusammenfassung der Ereignisse am Ende der Bronzezeit liefert, die nun tatsächlich praktisch identisch ist mit den Thesen zum Seevölkersturm, wie sie Zangger 1994 vorgestellt hatte. Zangger und Woudhuizen entschließen sich, die luwischen Hieroglypheninschriften zu veröffentlichen. Erst im Frühjahr 2018 erfahren sie, dass die große Inschrift („Beyköy 2“) bereits 1989 auf einer internationalen Konferenz in Gent gezeigt wurde.

Oktober 2017: Das Buch „Die Luwier und der Trojanische Krieg“ erscheint. Der Verlag hat es dem Autor ermöglicht, ein 18 Seiten umfassendes Kapitel über die neuesten Entdeckungen in James Mellaarts Nachlass anzuhängen, in dem auch die große luwische Hieroglypheninschrift erstmals gezeigt wird.

November 2017: Der Stiftungsrat von Luwian Studies entscheidet, eine Untersuchung und Veröffentlichung der Dokumente aus dem Nachlass von James Mellaart anzustreben.

Dezember 2017: Eine Onlineversion der Publikation der luwischen Hieroglypheninschriften erscheint in TALANTA – Proceedings of the Dutch Archaeological and Historic Society.

7. Februar 2018: Ein internationales und interdisziplinäres Wissenschaftlerteam trifft sich in Zürich, um die Herangehensweise bei der Untersuchung und Publikation von James Mellaarts Nachlass zu besprechen. Dabei wird entschieden, dass zunächst nach weiteren Hinweisen gesucht werden soll, ob die Dokumente echt sind oder nicht.

24. Februar 2018: Alan Mellaart und Eberhard Zangger treffen sich erneut in James Mellaarts ehemaliger Wohnung in London. Mellaarts Dokumente befinden sich in zwei Räumen der Wohnung und in zwei Garagen. Nach vier Tagen intensiver systematischer Durchforstung des Nachlasses findet Zangger ein Dossier, das unzweifelhaft belegt, wie James Mellaart die englischen Übersetzungen der angeblichen Keilschriftdokumente („Beyköy-Texte“) selbst konstruiert hat. Zuvor ist Zangger bereits auf in Schiefertafeln geritzte Skizzen von angeblichen Wandmalereien aus Çatalhöyük gestoßen.

1. März 2018: Mit einer Medieninformation weist Luwian Studies darauf hin, dass Mellaart erwiesenermassen angebliche historische Dokumente selbst fabriziert hat, und zwar mit Sicherheit die spät „entdeckten“ Wandmalereien aus Çatalhöyük und die keilschriftlichen „Beyköy-Texte“. Zwischen diesen Dingen und Zanggers Thesen zur luwischen Kultur in Westkleinasien und den Seevölkerinvasionen besteht allerdings kein Bezug. Sie sind komplett unabhängig voneinander entstanden.