Nichthomerische Troja-Berichte

Im Jahr 1788 publizierte Jean-Baptiste Gaspard d’Ansse de Villoison die Erstausgabe der Ilias Codex Venetus A mit ihren Scholien.

Troja ist heute untrennbar mit Homer verbunden. Diese Sichtweise ist jedoch relativ neu: Im Mittelalter waren Homers Werke unbekannt, während andere Berichte über die Blütezeit und den Untergang Trojas große Verbreitung fanden. Viele dieser nichthomerischen Troja-Berichte, wie wir sie heute nennen, gaben eine Troja-freundlichere Version der Geschichte wieder und versuchten gleichzeitig historische Tatsachen zu überliefern. Sie prägten das europäische Denken nachhaltig, wurden aber Ende des 18. Jh. durch das wiedererwachte Interesse an Homer verdrängt. Niemand hat sich jedoch bis heute die Mühe gemacht, nichthomerische Troja-Berichte mit den Grabungsbefunden der letzten hundert Jahre zu vergleichen.

Heute zählt für die meisten nur ein einziges Epos, in dem sich die Erinnerung an den Trojanischen Krieg bewahrt hat, nämlich Homers Ilias. Diese Überzeugung ist jedoch noch keine zweihundert Jahre alt – während der dreitausend Jahre davor galt eine andere Sichtweise. Eine Reihe umfassender Erzählungen des Trojanischen Kriegs existieren heute noch: die sogenannten nichthomerischen Troja-Berichte. Es scheint, dass Homer nur relativ kurze Ausschnitte des Epischen Zyklus für seine Erzählungen übernommen hat, denn die gesamte Handlung der Ilias widmet sich ausführlich nur den Ereignissen während fünfzehn Tagen und fünf Nächten. Das Publikum musste den restlichen Sagenkreis kennen, um die von Homer geschilderten Episoden verstehen zu können. Er wurde also auf die eine oder andere Weise von Generation zu Generation weitergegeben. Hinzu kam der Eindruck, die Qualität und Popularität der homerischen Dichtung könnte die Nachwelt in die Irre führen und davon ablenken, was tatsächlich passiert war. So bemühten sich bald verschiedene andere Dichter, umfassende Erinnerungen an den Trojanischen Krieg zu bewahren. Heute besteht jedoch ein Missverhältnis zwischen der Aufmerksamkeit, die Homers Epen zuteil wird und dem geringen Interesse an den nichthomerischen Troja-Berichten.

Homer stellte den Trojanischen Krieg eher aus der griechischen Perspektive dar, während die anderen Autoren tendenziell Troja wohlgesinnt waren. Es waren diese nichthomerischen Troja-Berichte, die im Mittelalter aufblühten und einen bleibenden Einfluss auf das europäische Denken hatten. Für über tausend Jahre waren aristokratische Familien, königliche Dynastien und ganze Nationen bestrebt, ihre Herkunft bis nach Troja zurückzuverfolgen. Historiker haben Troja schon als „gemeinsames Erbe Europas“ und „Vorstellung vom genealogischen Zusammenhang Europas“ bezeichnet. Mit Homer hat dies jedoch nichts zu tun, denn die europäische Begeisterung für Troja stützte sich nicht auf ihn. Homers Dichtung war im Mittelalter vernachlässigt worden, man kannte sie nur noch vom Hörensagen.

Unseres Wissens gibt es bis heute weltweit keine einzige Publikation, die den Befund der Ausgrabungen der letzten 140 Jahre auf die inhaltlichen Angaben der nichthomerischen Troja-Berichte angewandt hätte – hingegen gibt es Tausende Publikationen, die archäologische Befunde mit Homer in einen Zusammenhang stellen. Im Lehrbuch Troia und Homer des emeritierten Basler Gräzisten Joachim Latacz wird auf 462 Seiten nur einmal und auch dann nur mit einem einzigen Wort gesagt, dass es andere Quellen zu Troja gäbe: „Mythografen“ nennt sie Latacz, also Leute, die Geschichten mit übernatürlichen Wesen niederschreiben. Eigentlich ist es jedoch genau umgekehrt: Die nichthomerischen Quellen enthalten nämlich praktisch keine Mythologie, bei Homer hingegen stellen Götter die Weichen der Handlung. Der Dichter wusste sogar, was einzelne Götter im Gespräch zueinander sagten. Woher eigentlich? Bis in die Zeit der Aufklärung galt Homer genau aus diesem Grund ausdrücklich als nicht authentisch. Erstens hatte er nicht zu Zeiten des Trojanischen Kriegs gelebt, und zweitens schilderte er, wie Götter mit menschlichen Wesen kämpften. Beides ließ ihn unglaubwürdig erscheinen.

Viele wertvolle Anregungen in der Ägäischen Frühgeschichte entsprangen Angaben bei Homer. Schließlich hat Charles Maclaren Ilion aufgrund der Angaben Homers lokalisiert. Und als bei den Ausgrabungen von Ilion unter der Leitung Manfred Korfmanns unerwartet Gräben im Festgesteinsuntergrund auftauchten, haben er und sein leitender Philologe, Joachim Latacz, diese sogleich als „Annäherungshindernis“ interpretiert, weil die Anlage eines Grabens (allerdings auf der Seite der Griechen) von Homer in der Ilias erwähnt wird.

Das Interesse an Homer erwachte erst wieder am Ende des 18. Jh. und nahm bald erstaunliche Ausmasse an, weil Homers Werk geeignet war, die Sichtweise der Neuhumanisten des 18. und 19. Jh. zu untermauern. Dabei half sehr, dass 1788 der Codex Venetus A, eine Handschrift der Ilias aus dem 10. Jh. mit zahlreichen Scholien und Marginalien, publiziert worden war. Seither, seit rund sieben Generationen, erhielt Homers Werk viel Raum in den Lehrplänen der Schulen; dadurch haben wir möglicherweise die nötige Distanz verloren. Die Identifikation der Luwier und ihre Rolle bei den Seevölker-Wanderungen und im Trojanischen Krieg bietet nun eine willkommene Gelegenheit, manche wenig beachtete antike Texte aus einer neuen Perspektive zu betrachten.

LITERATUR

d’Ansse de Villoison, Jean-Baptiste Gaspard (1788): Homeri Ilias ad veteris codicis veneti fidem recensita. Scholia in eam antiquissima ex eodem codice aliisque, nunc primum edidit cum asteriscis, obeliscis aliisque signis criticis.
Goethe, Johann Wolfgang (1831): Goethe’s Werke, vol. 39. Cotta, Stuttgart, 1-374.
Korfmann, Manfred O. & Dietrich P. Mannsperger (ed.) (2012): Troia/Wilusa – Überblick und offizieller Rundweg mit Informationstafeln verfasst von der Grabungsleitung. Çanakkale-Tübingen Troıa Vakfi, Istanbul, 1-136.
Lienert, Elisabeth (2001): “Ein mittelalterlicher Mythos – Deutsche Trojadichtungen des 12. bis 14. Jahrhunderts.” In: Troia – Traum und Wirklichkeit. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung, Theiss, Stuttgart, 204-211.
Marchand, Suzanne L. (1996): Down from Olympus – Archaeology and Philhellenism in Germany, 1750-1970. Princeton University Press, Princeton, 1-400.