Warum fehlen die Luwier?

Als Arthur Evans in seinen Publikationen das Fundament für die Ägäische Frühgeschichte legte, schloss er jedoch nur Kulturkreise innerhalb der europäischen Grenzen darin ein.
Zwischen 1870 und 1910 haben Altertumskundler Troja, Mykene, Knossos und Hattuša freigelegt.
Die Verbreitung der mittelbronzezeitlichen Fundstätten in einem Lehrbuch der Ägäischen Frühgeschichte aus dem Jahr 1994 zeigt, wie sehr Westkleinasien terra incognita ist.
Sir Arthur Evans, der Ausgräber von Knossos.

Die umfassende Erforschung bronzezeitlicher Fundstätten in Griechenland und der Türkei begann gegen Ende des 19. Jh. Der damals in Deutschland verbreitete Philhellenismus sowie die Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich führten dazu, dass die Forscher sich dabei weitgehend auf Griechenland konzentrierten. Dass in Mitteleuropa zuvor zweitausend Jahre lang eine große Begeisterung für alles Trojanische geherrscht hatte, ging darüber vergessen.

KENNTNISSTAND

Zwischen 1870 und 1910 entdeckten westeuropäische Abenteurer und Gelehrte in der Türkei und in Griechenland eine Reihe wichtiger Siedlungsstätten, die rund tausend Jahre älter waren als der Beginn der europäischen Geschichtsschreibung. Auf Initiative und Kosten des deutschen Kaufmanns Heinrich Schliemann begannen Ausgrabungen auf dem Hügel Hisarlık (türkisch für „Siedlungshügel mit Burg“) im Nordwesten Kleinasiens, wo verschiedene Geologen und Hobbyforscher Troja vermuteten. Durch frühe Erfolge in der Türkei ermutigt, führte Schliemann anschließend auch Grabungen in Griechenland durch.

Nachdem Kreta 1898 Autonomie vom Osmanischen Reich erlangt hatte, begannen rund ein Dutzend Ausgrabungen auf der Insel, allen voran in Knossos unter der Leitung des britischen Archäologen Arthur Evans. 1906 lancierte der Berliner Assyrologe Hugo Winckler Grabungen in Hattuša in Zentralkleinasien. Durch die Erforschung von Troja, Mykene, Knossos, Hattuša und vielen anderen Fundstätten kamen Kulturen ans Licht, die bereits über tausend Jahre vor der klassischen Antike bestanden hatten.

Schon bald standen die Altertumskundler vor der Aufgabe, das neu erworbene Wissen über die frühen Kulturen der Ägäis-Anrainer zu strukturieren. Um 1920 schuf Arthur Evans die noch heute weitgehend gültige dreiteilige Chronologie (Früh-, Mittel-, Spätbronzezeit) für das 3. und 2. Jt. v. Chr. und legte damit das eigentliche Fundament für die neue Disziplin „Ägäische Frühgeschichte“. Evans hatte drei große Regionen vor sich: Kleinasien, Festlandgriechenland und Kreta. Und er hatte in jeder dieser Regionen einen bedeutenden Ort: Troja, Mykene und Knossos. Er definierte auch drei Kulturkreise, von denen jedoch nur zwei mit den zuvor genannten Regionen und Hauptorten übereinstimmten. Knossos war natürlich das Zentrum der minoischen Kultur, Mykene das der mykenischen. Troja aber ließ Evans isoliert stehen. Stattdessen wies er den Ägäis-Inseln einen eigenen Kulturkreis zu, obwohl diese über keinen Hauptort verfügten und im 2. Jt. v. Chr. auch keine Machtstellung innehatten. Hattuša blieb zunächst ebenfalls außen vor.

ANREGUNGEN

Ein Philhellenist definiert die Ägäische Frühgeschichte

Als Arthur Evans um 1920 seine Chronologie für die Ägäische Frühgeschichte entwarf, standen Griechenland und die Türkei im Krieg. Dem Philhellenen Evans wäre es unter solchen Umständen nicht in den Sinn gekommen, das Augenmerk der Forschung auf etwaige Kulturen auf türkischem Boden zu lenken. Daher wies er keinen eigenen Kulturkreis für Troja aus, obwohl es die mit Abstand berühmteste Schichtfundstätte der Welt ist.

Wegen dieser Unterlassung vor hundert Jahren gibt es heute an kaum einem Ort der Welt so viel Potenzial für Entdeckungen wie in Westkleinasien. Der archäologischen Forschung ist dort bis heute ein ganzer Kulturkreis weitgehend verborgen geblieben. Die Erinnerung an die Luwier blieb jedoch in vielen Dokumenten in Griechenland, Kleinasien und Ägypten bewahrt. In Zukunft gilt es, viele hundert Städte und Siedlungen durch archäologische Ausgrabungen systematisch zu erforschen.

Für die Entwicklung Westeuropas spielten die Luwier eine Schlüsselrolle. Auf dem Nährboden ihrer Kultur entstand die griechische Philosophie, Dichtkunst und Wissenschaft. Nicht ohne Grund haben sich die Westeuropäer im Mittelalter volle tausend Jahre lang vom Königsgeschlecht der Trojaner herzuleiten gesucht. Hunderte Städte in Europa – darunter Rom, Paris und London – nahmen für sich in Anspruch, nach dem Modell Trojas errichtet worden zu sein.

Diese Begeisterung für alles Trojanische kehrte sich allerdings komplett in Ablehnung um, und zwar etappenweise, nachdem die Osmanen Konstantinopel erobert (1453) und schließlich selbst Wien zum zweiten Mal bedrängt hatten (1683). Danach wollte sich die intellektuelle Führungsschicht Mitteleuropas nicht mehr als Nachfahren der Trojaner betrachten. Stattdessen suchte und fand sie ein neues historisches Rollenmodell: das antike Griechenland und Rom sollte es sein; offensichtlich weil diese Kulturen große Regionen um das östliche Mittelmeer dominierten. Plötzlich galt als Barbar, wer nicht Griechisch sprach.

Spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelten solche auf rassistischen Vorurteilen basierenden Bewertungen als inakzeptabel. Unterschwellig wirken sie jedoch weiter, weil sie die Erforschung anatolischer Völker erheblich verzögerten. Daraus resultieren Verzerrungen und Wissenslücken, die sich nun allmählich schließen.

LITERATUR

Evans, Arthur (1877): Through Bosnia and the Herzegóvina on Foot. Longmans, Green & Co., London, 1-435.
Fox, Margalit (2013): The Riddle of the Labyrinth. Profile Books, London, 1-363.
Mee, Christopher B. (1982): Rhodes in the Bronze Age. Aris & Phillips, Warminster, 1-149.
Zangger, Eberhard (1994): Ein neuer Kampf um Troia – Archäologie in der Krise. Droemer, München, 1-352.
Zangger, Eberhard (1995): “Who were the Sea People?” Aramco World (May/June), 21-31.